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Am Gymnasium Nordhorn wird ermittelt – und zwar gegen ein Jahrhundert!

Die Theater-AG sorgt für zwei grandiose Abende mit Lessing, seinem Stück und teils erstaunlichen Ermittlungsergebnissen
Emilia Galotti … ernsthaft? Das mag sich vielleicht manch einer gefragt haben beim Blick auf das Programm. So einen alten Schinken? Seit Jahrzehnten Schullektüre, fällt denen nichts Aktuelleres ein? Und überhaupt, ein bürgerliches Trauerspiel … Ist das nicht wirklich zu affektiert-sentimental, zu altbacken und zu angestaubt für unsere Zeit?
Nun, seit dem 12. und 13. Juni 2025 wissen wir: Mitnichten! Denn die Theater-AG unserer Schule servierte an beiden Abenden in der Aula Lessings Drama frisch, spannend und einfach richtig gut. Jede und jeder einzelne Beteiligte trug dazu bei, dass es wirklich gelungene Aufführungen wurden, die jeweils eine vollbesetzte Aula verdient gehabt hätten. Inga Brookmann und Jörg Fröhlich haben wieder einmal viel (Regie-)Arbeit in ein solches Projekt investiert und wieder einmal konnten sich die Ergebnisse wirklich sehen lassen.
Es beginnt unerwartet: Die Proben zum Stück laufen noch, geprobt wird gerade der Mord an Emilia, da schaltet sich plötzlich und ungefragt ein kriminalistisches Ermittlertrio (an klassische Tatort-Teams erinnerten: Annika Flemm, Josephine Gottwald und Malea Brunhöfer) ein, wähnt wohl Gefahr im Verzug und will den Tathergang rund um die Ermordung Emilia Galottis (einfühlsam gespielt von: Marie Simons) aufklären. Hilfe holt man sich praktischerweise beim Autor Lessing selbst (sachlich-distanziert und doch präsent: Sara E. Wagner-Pikkemaat) sowie bei der Regisseurin (rollendienlich, pointiert: Ilayda Balkaya). Und schon bald zeigt sich: So einfach, so eindeutig, wie es scheint, ist es nicht. Die Tat hat eine lange Vorgeschichte, viele Einflussfaktoren spielen eine Rolle. Sind es letztlich wohlmöglich alle Umstände zusammen, die zum Tod von Emilia Galotti führen? Sitzt gar ein ganzes Zeitalter auf der Anklagebank?
Die Handlung ist bekannt und an sich zügig zu überblicken: Emilia Galotti will den Grafen Appiani (gelungene Darbietung von: Lucy Kreuzfeld) heiraten, allerdings hat auch Prinz Hettore Gonzaga (fulminant, v. a. im Spiel mit Gestik und Mimik: Emil Walter) ein Auge auf Emilia geworfen und macht sich, obwohl – oder eher: weil – er von ihrer baldigen Hochzeit weiß, in einer Kirche unschicklich an Emilia ran. Noch bevor Emilia mit dem Grafen vor den Traualtar treten kann, wird die Kutsche überfallen, mit der die Verlobten unterwegs sind. Dabei wird der Graf erschossen, Emilia landet beim Prinzen in dessen Lustschloss Dosalo und damit letztlich in den Fängen des Bösen.
Und wie sieht es aus, das Böse? Tja, das Böse erscheint in diesem Stück in verschiedenen Gestalten. Da ist der Prinz selbst. Was er tut, tut er oft bedenkenlos. Oft ist es tödlich – aber, natürlich, nur für andere und er macht es, natürlich, auch nicht selbst. Dafür hat er einen Kammerherrn, seine rechte Hand, seinen Mann fürs Grobe und den lässt der Prinz einfach machen. Tatsächlich, dieser Kammerherr, Marchese Marinelli (tiefgründig durchdrungen und facettenreich gespielt von: Delia Ameloh) zeigt eine geradezu diabolische Boshaftigkeit, denn er kann auch Grausamstes und Gemeinstes so verbindlich zugewandt sagen, dass es noch den Anschein des pädagogischen Wohlwollens in sich trägt. Dabei ist er es, der die Kutsche hat überfallen lassen und der dafür den vorbestraften Mörder Angelo (stilecht mit Hut und kurzen Sätzen: Kevin Bernhardt) angeheuert hat. Erst durch Marinelli sowie dessen Kniffe und Intrigen entfaltet sich die aalglatte, zynische, menschenverachtende und egomane Machtfigur des Hettore Gonzaga zu voller Blüte. Das verhöhnende, mal laut schenkelklopferische, mal nur zur miesen, eiskalten Fratze erstarrte Lachen, etwa wenn Emilia oder deren Mutter Claudia (diese textintensive Rolle in kürzester Zeit angeeignet hat sich: Mira Brookmann) vor ihm stehen, hat sicherlich manch einem in der Aula kalte Schauer über den Rücken gejagt.
So kommt es, wie es kommen muss. Emilia kann sich aus dem Netz aus Intrigen und Lügen, aus Gewalt, Angst und moralischen Abgründen nicht mehr befreien. Insbesondere, da nun der Prinz sie bedrängt, ihn zu heiraten, bittet sie nach einer letzten, verzweifelten Suche nach einem Ausweg ihren Vater Odoardo (den Vater-Bürger-Zwiespalt dieser Rolle fein herausgearbeitet hat: Merrit Pasternak) aus Sorge um ihre eigene Tugendhaftigkeit und Ehre darum, sie umzubringen, was dieser auch tut – mit einem Messer, das dieser ausgerechnet von der Gräfin Orsina (ihr den passenden leidenden Ausdruck verliehen hat: Finja Janke) bekommen hat, der ehemaligen Geliebten des Prinzen.
In verschiedenen anderen Rollen überzeugten zudem: Hannah Brinkhaus (als Hofrätin Camilla Rota), Helen Märlender (als Malerin Artemisia Gentileschi), Anna Hurny, Mia Gehrke und Greta Ahrends (als Bediente), Marie Jagusch (als Hausmeisterin) sowie Isabel Faber, Annika Heils und Lara Grün.
Am Ende geschieht der Mord somit vordergründig auf Emilias Wunsch hin. Tatsächlich aber morden insbesondere auch die gesellschaftlichen Umstände mit, die von Willkür, Machtmissbrauch und einem verachtenden Frauenbild gekennzeichnet sind.
So ist es an diesem Abend also der große Lessing selbst, der, zusammen mit einer Regisseurin und einem Ermittlerteam, sein eigenes Zeitalter kritisch in den Blick nimmt. Das Publikum erlebt eine Aufklärung der Aufklärung über sich selbst.
Denn damals wie heute sind Morde aus einer männlich definierten Ehrgefühlverletzung heraus nichts anderes als ordinäre Mordtaten aus niederen Beweggründen, begangen aus einem patriarchalen Machtgefüge heraus, das eben durch die Tat gestützt werden soll. Dies am Ende so klar herausgestellt zu haben, ist ein starkes Zeichen, das noch einmal glänzenderes Licht auf diese Theaterabende wirft, sowohl auf das wuchtige Stück als auch auf diese Gruppe von Schauspielbegeisterten.

Text und Foto: Kerstin Wörsdörfer