Musik

The Neigbourhood: Die Indie-Stars melden sich mit ihrem furiosen, vierten Album zurück

Wenn man die Welt einmal hinter sich gelassen hat, so besteht immer die Aussicht, dass man es bei der Rückkehr ein wenig besser machen kann.

Anstatt sich heimlich, still und leise davon zu stehlen und in einem abgelegenen, exotischen Versteck abzutauchen, hat sich The Neighbourhood-Frontmann Jesse Rutherford einen ganz anderen Platz gesucht. Er fand einen Rückzugsort im Inneren – dort, wo Chip Chrome zu Hause ist. Ganz in glitzerndem Silber feiert er nun auf dem vierten The Neighbourhood-Album „Chip Chrome & The Mono-Tones“ sein offizielles Stelldichein.

Einige wichtige Fragen bleiben jedoch: Ist das immer noch The Neighbourhood? Sind Chip und Jesse Rutherford die selbst Person? Und überhaupt: was kommt als nächstes?

„Ich wollte einen anderen Weg wählen, mich über die Musik auszudrücken“, erklärt Jesse. „Letzten Endes wollte ich herausfinden, was das alles eigentlich wert ist. Manchmal fällt es mir schwer, es in Worte zu fassen – auch wenn es als Texter der Band eigentlich mein Job sein sollte. Chip half mir, diese Stimme zu finden. Er ist der beste Anführer, der ich für dieses Projekt sein könnte, für die Jungs und für meine Freunde. Die Mono-Tones sind die Stimmen in meinem Kopf, die immer da sind. Sie verfolgen mich und rauben mir den Schlaf, aber ich vertraue ihrem guten Geschmack. Genauso, wie ich die Jungs glücklich machen will, möchte ich auch die Fans glücklich machen. Um das zu erreichen, habe ich alles andere ausgesperrt und mich alleine hingesetzt, etwas gefunden, das mich glücklich macht und meine Stimme entdeckt. Das Witzige daran ist, dass es sich über die ganze Ernsthaftigkeit lustig macht. Ich möchte nicht allzu viel grübeln. Viele dieser Songs basieren auf Dur-Akkorden, es könnte also einfach auch eine fröhlichere Version von The Neighbourhood sein.“

Chip Chrome war schon immer irgendwo hinter den Kulissen präsent, auch während des Aufstiegs von The Neighbourhood zu internationaler Bekanntheit. Seit 2011 hatte es das aus Southern California stammenden Quintett immer wieder verstanden, althergebrachten Konventionen und Erwartungen elegant aus dem Weg zu gehen. Nach dem Erfolg ihres Platin-zertifizierten Debütalbums „I Love You“, das u.a. die Fünffach-Platin-Single „Sweater Weather“ enthielt, arbeiteten sie u.a. mit YG und Denzel Curry zusammen, traten bei hochkarätigen Festivals wie Coachella auf und waren in TV Shows wie „Jimmy Kimmel LIVE!“ zu Gast. Ihre Songs kommen auf mehr als eine Milliarde Streams und Views und ihre Veröffentlichungen erhielten stets hervorragende Kritiken. Anlässlich der Veröffentlichung ihres 2018 erschienenen, selbst betitelten Albums schrieb das Atwood Magazine: „Auf ‚The Neighbourhood‘ präsentieren The Neighbourhood 42 Minuten Brillanz und widmen sich dabei stets klar und transparent den größten emotionalen Problemen, die das Leben einem bescheren kann.“

Ins Scheinwerferlicht trat Chip erstmals 2019 auf der Single „Middle Of Somewhere“. „Wir waren mit ‚Sweater Weather‘ ziemlich furios und erfolgreich aus den Startblöcken gekommen, danach dachte ich dann immer ‚Wie können wir das nur wiederholen?‘, gibt Jesse zu. „Diesmal wollte ich das nicht; ich wollte etwas komplett Neues machen. Wir wollten das Video zu ‚Middle Of Somewhere‘ drehen und ich kam in einem silbernen Spandex-Anzug und Farbe im Gesicht. Zu meiner eigenen Überraschung stellte sich das als der beste Move mit der Band heraus. Sie mochten, wie bekloppt und interessant es aussah. Im Verlauf dieses Prozesses konnte ich aber immer noch all die Jesse-haften Sachen machen. Chip war ein Weg für mich zu sagen: ‚Ich werde ganz ich selbst sein. Und keiner kann mich stoppen‘.“

2020 stöpselte er sich nun komplett aus und ging als Chip wieder ans Netz. Oder in Jesses Worten: „Er verließ das Internet, nahm sich eine Gitarre, spielte sich die Finger blutig und lernte, Songs auf eine ganz neue Art und Weise zu schreiben.“

Wie z.B. die erste Single des Albums: „Cherry Flavoured“, auf der er singt: „I sold my soul a long time ago. I feel like a ghost now.” „Der Begriff ‘Cherry Flavoured Conversations’ bedeutet genau, wonach es klingt”, erklärt er. „Es ist etwas, dass sehr gut und süß erscheint, wenn man darüber spricht, aber in der Realität überhaupt nicht möglich ist. Am Ende ging ich zu einem Ort in meinem Inneren und meldete mich wieder. Mir wurde klar: ‚Vielleicht bin ich ja derjenige, der dieses ‚Kirscharoma‘ in die Gespräche einbringt?‘. Ich musste auf mich selbst schauen.“

„Devils Advocate” wird von gitarrengetriebenen Melodie bestimmt, die von ungewöhnlichen Pieptönen und Bloops nebst Falsettgesang unterbrochen wird. „Es geht darum, wieder ein einfacher Mann zu sein, anstatt zu versuchen, irgendeiner Designermarke nachzujagen“, sagt er. „Ich fühle mich von Designern, Diamanten und dem ‚guten Leben‘ angezogen, aber es gibt nichts Schöneres, als in den einfachen Dingen Großartigkeit zu finden.“

Dann gibt es da noch „Pretty Boy“. Eine Surfgitarre ertönt über Tamburin und einer zarten Basslinie und ein apokalyptisches Liebeslied erklingt, das nach seinem Hund benannt ist. „Nach diesen beiden Erdbeben im letzten Jahr spielte ich Gitarre auf der Couch, hatte meinen Hund auf der einen Seite und mein Mädchen auf der anderen Seite“, erinnert er sich. „Ich dachte mir: ‚Wenn jetzt alles vorbei sein sollte, ist das keine schlechte letzte Szene, oder?‘ Ich wusste zu schätzen, was ich habe. Wir sind gemeinsam auf diesem Lebensweg und das war ein unverfälschter kleiner Moment. „

Basierend auf einem Sample, „das Brandon aus einer Kiste gezogen hat“, galoppiert das sprudelnde „Lost In Translation“ auf einem Seventies-Dancefloor-Groove in Richtung Hookline, in der es darum geht „wie viel Lärm es gibt und wie schwer es ist, sich Gehör zu verschaffen oder gar zuzuhören“. Die Platte endet mit dem Song „Tobacco Sunburst“. Es ist das erste Lied, das Bassist Mikey mit Gitarre zur Gruppe beisteuerte. Das Geräusch am Anfang stammt von einem Flugzeug, das in der Nähe des Hauses am Coldwater Canyon abhob, wo sie während des Songwriting-Prozesses lebten. Es endet mit einem minimalistisch-krassen Refrain.

„Das Album sollte ursprünglich ‚Tobacco Sunburst‘ heißen, weil ich wollte, dass sich um eine Gitarre dreht“, verrät Jesse. „Das Lied ist ein besonderer Moment. Es ist eine verwaschene Atmosphäre. Es legt nahe, wie die Zukunft dieser Band aussehen könnte. Wir könnten es rausbringen, wenn wir vierzig sind, und es wäre immer noch tipptopp.“

So sehr Chip The Neighbuorhood beeinflusst hat, so verfügt er auch über die Macht, Hörer auf der ganzen Welt zu beeinflussen.

„Ich denke, bei Chip ging es wirklich darum, zu sagen: ‚Wir wissen nicht, was passieren wird, aber ihr werdet nie wissen, was ihr von uns erwarten könnt, denn wir drehen möglicherweise wieder auf‘, sagt er. „Letztendlich ist dies ein Kunstprojekt. Es soll Spaß machen. Ich habe das Gefühl, die Jungs und ich waren uns nie näher. Es ist erstaunlich, dass wir dieses Leben als Musiker zusammen leben können. Wenn wir immer noch eine Stimme in der Welt haben, werden wir sie nutzen. ‚Chip Chrome & The Mono-Tones‘ hat meine Stimme neu definiert. Je mehr ich es höre, desto mehr denke ich: ‚Das ist zu hundert Prozent ein ‚Neighbourhood-Album‘“.